07
Februar
2020
|
10:12
Europe/Amsterdam

Expertenprofil: Nacht der Solidarität: „Zählung wichtig trotz Kritik“

Experte für Wohnungs- und Obdachlosigkeit Prof. Dr. Meyer nimmt Stellung

Erfurt, 07. Februar 2020 - Die Stadt Berlin hat heute Vormittag die ersten Ergebnisse der Obdachlosenzählung im Rahmen der „Nacht der Solidarität“ vorgestellt. Prof. Dr. Nikolaus Meyer, Professor für Soziale Arbeit an der IUBH Internationalen Hochschule, forscht seit Langem zum Thema Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Seine Thesen im Überblick:

„Ein Drittel der Obdachlosen sind 50 Jahre und älter – hier muss es spezielle Angebote geben“

Die Berliner Zählung gibt wichtige Impulse zur Altersverteilung: 28 Prozent der Befragten sind 50 Jahre und älter. Bisher haben wir deutschlandweit gerade für ältere Obdachlose nur sehr unzureichende Hilfemöglichkeiten und die vorzeitige Alterung ist auf der Platte extrem.

Trotz Kritik: „Die Zählung war richtig und wichtig!“

Die Skepsis in der Szene, z.B. durch die Selbstvertretung obdachloser Menschen, gegenüber einer staatlichen Zählung war hoch. Mit diesem Paternalismus-Vorwurf muss man sich auseinandersetzen. Trotzdem war die Zählung wichtig und richtig. Die Politik braucht deutschlandweit verlässlich zahlen zur angemessenen Ausgestaltung des Hilfesystems. Bisher hat man die Wohnungsnotfallhilfe deutschlandweit mithilfe von Vermutungen finanziert. So kann es nicht weitergehen. Vor allem hat die Zählung aber die Gesellschaft für das Thema Obdachlosigkeit sensibilisiert und gezeigt, dass da Menschen am Rand unserer Gesellschaft sind und wir uns fragen müssen, ob wir das so wollen. Das ist ein Riesenerfolg!

„Die Zahlen belegen den Forschungsbedarf. Mehr nicht!“

Durch die Studie haben wir zwar nun Zahlen zu Berlin, inwieweit die aber die Realität dort und vor allem insgesamt in der Bundesrepublik Deutschland darstellen, ist offen. Immerhin haben zahlreiche Freiwillige nach der Berliner Zählung berichtet, dass sie keine obdachlosen Menschen an Stellen angetroffen haben, wo erfahrene Sozialarbeiter*innen bei jedem Wetter obdachlosen Menschen begegnen.

Zum aktuellen Gesetzesentwurf: „Bislang gibt es zu wenige offizielle Statistiken zu Wohnungs- und Obdachlosigkeit“

Warum es bisher deutschlandweit keine offizielle Statistik zu Wohnungs- und Obdachlosigkeit vorliegt, kann nur angenommen werden. Aber: Genaue Zahlen können natürlich ziemlich unbequem für die zuständigen Kommunen werden. Immerhin müsste man, wenn die Zahl der Obdachlosen höher als vermutet sei, ziemlich schnell finanzielle Konsequenzen ziehen und das ist weder personell noch beim Aufbau von Einrichtungen adäquat hinzubekommen.

Zwar hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales nun eine Statistik zur Wohnungslosigkeit angekündigt, der vorgelegte Gesetzentwurf ist aber weiter viel zu wenig. Denn so wird nur die Zahl der Menschen erfasst, die am Stichtag 31. Januar eines jeden Jahres in einer Einrichtung untergebracht seien. Was ist mit den Menschen auf der Straße? Die werden weiter nicht erhoben. Die Bundesregierung sollte prüfen, ob nicht zusätzlich zur Stichtagsregelung auch eine Jahresgesamtzahl erhoben werden könne. Durch eine Jahresgesamtzahl werden auch die Menschen erfasst, die vor dem Stichtag wohnungslos waren, es aber zum Stichtag nicht mehr sind und auch diejenigen, die erst nach dem Stichtag wohnungslos werden.

 

Zur Person

Nikolaus Meyer ist seit 2017 Professor für Soziale Arbeit an der IUBH Internationalen Hochschule. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Komparative pädagogische Berufsgruppenforschung, Professionstheorie, Soziale Arbeit und Alter(n), Soziale Arbeit und Wohnungslosigkeit sowie „Erziehung nach Auschwitz“ als Mandat pädagogischen Handelns.

Meyer arbeitete lange als Hörfunkredakteur, Referent einer städtischen Gesellschaft, in einem Projekt der Gemeinwesenarbeit sowie als Dozent in der Ausbildung elementarpädagogischer Fachkräfte. Parallel zu seiner Promotion an der Goethe-Universität Frankfurt war Meyer Lehrbeauftragter und Mitarbeiter an verschiedenen Hochschulen und Universitäten, darunter an der Frankfurt University of Applied Sciences und an der Universität Kassel.