Frau Prof.ⁱⁿ Dr.ⁱⁿ André, warum werden viele Arbeitnehmer:innen krank, wenn der Stress nachlässt?

Leisure Sickness beschreibt Beschwerden wie Kopfschmerzen, Übelkeit oder Erschöpfung, die vor allem in der Freizeit auftreten, wenn eigentlich Erholung einsetzen sollte. Ein möglicher Grund liegt im autonomen Nervensystem: In Stressphasen dominiert der Sympathikus, während der Parasympathikus für Regeneration zuständig ist. Bei chronischer Anspannung fällt der Wechsel schwer, der Körper reagiert auf Entlastung mit Erschöpfung.

Besonders betroffen sind Menschen mit hohem Perfektionismus oder Kontrollbedürfnis. Auch digitale Dauererreichbarkeit verhindert mentale Entgrenzung, denn das Gehirn bleibt im Arbeitsmodus, Erholung wird blockiert.

Unternehmen können gezielt unterstützen, indem sie eine Kultur fördern, die Erholung erlaubt und ermöglicht. Dazu gehören Trainings zu Erholungskompetenz, Vorbildwirkung durch Führung, flexible Arbeitsrhythmen und klare Kommunikationsregeln.

Digitale Tools wie KI-basierte Self-Checks oder Wearables wie der Oura-Ring liefern Biofeedback zu Stresslevel, Schlaf und Erholung. Sie helfen, Überlastung früh zu erkennen und individuelle Regeneration zu fördern. Solche Technologien stärken die Selbstwahrnehmung: ein Schlüssel für mentale Gesundheit in einer beschleunigten Arbeitswelt.

Was sagen Sie zu den Studienergebnissen: Überrascht Sie, dass 71,9 Prozent der Arbeitnehmer:innen in Deutschland schon einmal Leisure Sickness erlebt haben?

Nein, wirklich überrascht bin ich nicht. Die Studienergebnisse decken sich mit meinen Beobachtungen und der Forschung zum Thema. Das ändert nichts daran, dass die Zahlen alarmierend sind. Stellen Sie sich vor, welche Folgen Leisure Sickness in sicherheitsrelevanten Berufen haben kann. Wenn eine Ärztin oder ein Pilot nicht ausreichend erholt ist, steigt das Risiko für Fehlentscheidungen deutlich. Leisure Sickness ist damit ein gesellschaftliches Thema, selbst wenn man persönlich nicht unmittelbar davon betroffen ist.

Besonders anfällig sind Frauen. Viele tragen neben der Erwerbsarbeit die Hauptverantwortung für Sorgearbeit und haben dadurch kaum echte Erholungszeiten. Auch freie Zeit ist oft von mentaler Verantwortung erfüllt, etwa durch Familienorganisation oder emotionale Betreuung. Dieses dauerhafte Aktivitätsniveau ohne Pausen begünstigt genau jene körperlich-seelische Reaktion, die als Leisure Sickness bekannt ist. In Berufen mit hoher emotionaler Anforderung kann chronische Erschöpfung so zur stillen Gefahr werden, für die Gesundheit ebenso wie für die Qualität der Arbeit.

Ab wann wird aus Leisure Sickness eine Krankheit?

Leisure Sickness ist ein Warnsignal des Körpers und sollte ernst genommen werden, auch wenn es keine offizielle Diagnose ist. Die Symptome sind oft unspezifisch und kommen und gehen, was dazu führt, dass sie im Alltag leicht übersehen werden. Wer sie ignoriert, riskiert, dass sich der dauerhafte Stress zu einem chronischen Erschöpfungssyndrom oder zu anderen gesundheitlichen Problemen entwickelt. Frühzeitige Aufmerksamkeit und Gegensteuerung sind deshalb entscheidend.

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